Im Theaterstück „Der zerbrochne Krug“ nach Heinrich von Kleist – inszeniert und aufgeführt vom Literaturkurs der diesjährigen Q1 – stellt sich trotz des Settings im Gericht eine konkrete Schuldfrage nicht gleich zu Beginn. Doch die schauspielerische Leistung der Beteiligten in der Eingangsszene ließ alle Anwesenden mit dem Eindruck zurück, dass mit Richter Adam – der Hauptfigur des Stücks – irgendetwas nicht stimmt.
Wie eigentlich in jedem Jahr war die Spielfreude des Literaturkurses zu Beginn des Schuljahrs sehr unterschiedlich ausgeprägt. „Aber ich wollte doch Regie machen.“, oder „Wer kümmert sich denn jetzt um die Technik? Das schaffe ich doch nicht gleichzeitig.“ waren Aussagen, die immer wieder zu hören waren. Aber während es sonst der Kursleitung – mit Unterstützung von engagierten Helfer:innen – obliegt, die Lust am darstellenden Spiel aus den Beteiligten herauszukitzeln, gab es dieses Mal hochkarätige Mitwirkung von außerhalb. Ein Kompetenzteam des von der Bezirksregierung initiierten Projekts „Theater macht Schule“ begleitete die Entwicklung der Aufführung nicht nur konzeptionell, sondern brachte zu einem Projekttag im November mit Samira Julia Calder auch eine professionelle Schauspielerin an unsere Schule. Durch ihre einnehmende Art und viele Tipps nahm sie den betroffenen Schüler:innen die Angst vor der Bühne und es war an diesem Tag, als die Entwicklung des Kurses von einer Gruppe von unterschiedlich engagierten Einzelpersonen zu einem echten Ensemble, ihren Anfang nahm. Ein Ensemble, dem es gelang, im Verlauf der folgenden Monate eine ganz eigene Interpretation des Kleistschen Lustspiels zu entwickeln, welche die Elemente des ursprünglichen Stücks bewahrte, wo das ging, es aber auch wagte, Anpassungen an die aktuelle Zeit vorzunehmen, wo sich das nicht nur anbot, sondern auch notwendig war.
Eine Entscheidung, die sich aus der neuen Maxime, dass wirklich alle Kursteilnehmer:innen mindestens an einer Szene auf der Bühne beteiligt sein sollten (und dies inzwischen auch wollten), war, dass die meisten Rollen mehrfach besetzt wurden. So gab es nicht nur mehrere Richter Adams, sondern auch gleich drei Frau Marthes sowie zwei Eves. Die simplen, aber wirkungsvollen Namenskennzeichnungen auf den T-Shirts der Akteur:innen machten diese Situation für alle Zuschauenden sicht- und nachvollziehbar. Auch der weitestgehende Verzicht auf Requisiten und das zurückhaltende Bühnenbild trugen dazu bei, dass alle Konzentration auf den schauspielerischen Leistungen liegen konnte. Nicht nur bei der Entwicklung des Stücks, sondern auch während der Aufführungen.

Unverändert blieb jedoch die bekannte Geschichte. Dorfrichter Adam (gespielt von Raul Schmidt, Ruhullah Hasani und Nico Peters) muss die Gerichtsverhandlung über eine Tat leiten, die er selbst begangen hat. Er, der eigentlich für Gerechtigkeit sorgen soll, tut genau das Gegenteil und versucht, seine Position und die ihm verliehene Macht auszunutzen, um sich aus der misslichen Lage zu befreien. Der namensgebende Krug gehört Frau Marthe (Elena Schmitz, Nathaniel Bleses und Samia Khan) und wurde zerstört, nachdem ein nächtlicher Eindringling ihre Tochter Eve (Antonia Conrad und Erona Maliqi) in deren Schlafzimmer verfolgt und dort bedrängt sowie sexuell belästigt hatte. Zum Gerichtstermin am folgenden Tag klagt Marthe auf Schadenersatz und der Richter versucht nicht nur, den Verdacht und am liebsten gleich die Schuld auf andere – namentlich auf Eves Verlobten Ruprecht (Finn Vershoven und Nils Hörnchen), der von seinem Vater Veit (Cesar Holz) unterstützt wird – abzuwälzen, sondern beeinflusst auch Marthe vor deren Aussage. Gemeinsam mit dem Schreiber Licht (Jaron Rütten und Jakob Göken) und dem aus der Provinzhauptstadt angereisten Gerichsrat Walter (Jonas Winter) wird das Publikum Zeuge, wie sich Adam immer weiter in Widersprüche verstrickt. Es ist ein Beleg für die dramaturgische und schauspielerische Leistung des Kurses, wie es gelingt, die von Kleist komödiantisch akzentuierte, aber eigentlich sehr ernste Situation genauso wie angedacht darzustellen und zu vermitteln – und das nahezu ohne eine einzige Zeile des originalen, aber inzwischen auch schon sehr alten, Textes zu verwenden. Auch die Tatsache, dass das zerbrochene Gefäß nur als Metapher für etwas größeres steht, wird in der Aufführung deutlich. Spätestens als Nachbarin Maria (Lea Bestvater) am Ende nach mutigem Hinschauen alle Zweifel ausräumt, das schon längst Vermutete klar artikuliert und damit die Ungerechtigkeit aufklärt.


Die Aufführung macht nachvollziehbar, dass das Stück nicht nur wegen seiner historischen Bedeutung Unterrichtslektüre und Teil des Themenumfangs für das Zentralabitur ist. Es trägt auch eine zeitlose Aktualität in sich, solange es Personen – häufig, aber sicher nicht nur, Männer – in Machtpositionen gibt, die ihre Stellung zum eigenen Vorteil oder zur Ausnutzung anderer – häufig, aber sicher nicht nur, jüngere Frauen – missbrauchen. Und es zeigt, dass solche Ungerechtigkeiten nicht hingenommen werden müssen, sondern es möglich ist, sich dieser zu erwehren. Wer alles hinter dieser Botschaft steht, wird in der letzten Szene der Aufführung deutlich. Zum Stück „Brich mich“ von Magda versammelt sich das gesamte Ensemble gemeinsam auf der Bühne und lässt den Song, der von Resilienz, Empowerment und emotionaler Stärke handelt, in voller Länge verklingen. Es ist auch ein Kommentar dazu, wie sich alle Beteiligten der Herausforderung einer Theateraufführung nicht nur gestellt, sondern diese auch bravourös gemeistert haben.


Text: Rebekka Bongart